1943 Falscher Alarm - Mühlenkalender

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1943 Falscher Alarm

Electrizität
"Falscher Alarm"

Eine «Komödie der Irrungen» bezüglich einer Energieverknappung vor 80 Jahren

In der Zeitschrift: Wasser- und Energiewirtschaft = Cours d'eau et énergie, Band (Jahr): 35 (1943), Heft 10-11 erschien während des zweiten Weltkrieges ein Artikel, der zu heutigen Situation viele Parallelen aufweist.
«Falscher Alarm»

Die «Mittelpresse» verbreitete in den Tagen vom 22-/23. Sept. 1943 mit dem Zeichen -Wy- einen Artikel unter dem Titel «Falscher Alarm», der ihr von sachkundiger Seite zugegangen sei. Der Artikel nimmt Bezug auf die Meldungen in der Presse, wonach aller Voraussicht nach mit verschärften Einschränkungen im Energieverbrauch im kommenden Winter zu rechnen sei. Begründet werde dies mit dem Hinweis auf die grosse Trockenheit dieses Sommers und auf die Tatsache, dass die meisten Speicherbecken unserer Kraftwerke einen tiefen Wasserstand aufweisen. Ja, es wurde gesagt, dass einzelne Becken, die in der Hauptsache auf Niederschläge angewiesen seien, halb leer stünden, und es sei nicht damit zu rechnen, dass dieser Ausfall noch gedeckt werden könne. Der Wy-Artikel stellt fest, dass diese Meldung keineswegs den Tatsachen entspreche und sucht dies durch Angaben über den Stand der verschiedenen Staubecken anfangs September 1943 zu beweisen. Der Artikel schliesst wie folgt:

«Auf jeden Fall steht fest: Die Meldungen hinsichtlich einer in Bälde zu erwartenden Stromverknappung entbehren jeder Grundlage und haben höchstens zu einer unnötigen Beunruhigung unserer bereits hinreichend belasteten Wirtschaft geführt. Zu bedauern wäre, wenn es zutreffen sollte, dass der Anstoss für diese Meldung vom Konsortium der Kraftwerke Hinterrhein ausgegangen sei, das damit die Notwendigkeit der baldigen Erstellung eines Grossakkumulierwerkes dokumentieren wollte.»

Der Artikel «Falscher Alarm» erschien dann in etwas veränderter Fassung auch in der «Technischen Rundschau» Nr. 40 vom 24. September 1943. Inzwischen waren die Septemberregen gefallen, und es konnte noch stärker als bisher die Haltlosigkeit der Meldung über nicht gefüllte Staubecken unterstrichen werden. Der Artikel schliesst wie folgt:

«Auf jeden Fall steht fest: Die in zahlreichen Tagesblättern erschienenen Meldungen hinsichtlich einer in Bälde zu erwartenden Stromverknappung entbehren der Grundlage und haben höchstens zu einer unnötigen Beunruhigung unserer hinreichend belasteten Wirtschaft geführt. Übrigens so schwer zu erraten sind die Zusammenhänge nicht. Vor allem die Fachtechnischen Belehrungen, des «Tat -Redaktors bringen etwelches Licht in das Dunkel um den Ursprung dieser Falschmeldungen.
Dies Wissen dürfte zweifellos eingeheimst worden sein anlässlich der vom Konsortorium Kraftwerke Hinterrhein, Thusis, veranstalteten Presse-Propagandafahrt ins Rheinwald. Man muss schon sagen: Die Ahnungslosigkeit, in welcher sich die «Vertreter der öffentlichen Meinung; vor den Wagen der Propagandisten der Mammut-Akkumulierwerke spannen Hessen, bildet fast einen Anreiz zur ungehemmten Interessenpolitik dieser letzteren. Es ging darum, die Stromkonsumenten erneut das Gruseln zu lehren, ihnen einmal mehr zu beweisen, wie einzig die Verwirklichung der Grossakkumulierwerke Rheinwald (300 Mio m3) einen bald chronischen Strommangel zu bannen vermöge. — Gut in Szene gesetzt, doch wir trauen dem Schweizervolk zu, dass es solche Dinge nicht so unbesehen hinnehme, wie eine Anzahl Vertreter seiner Presse!»

Die Meldung der Mittelpresse wurde von einer Reihe von Presseorganen veröffentlicht und zum Teil glossiert. Noch am 14. Oktober 1943, nachdem der «Mittelpresse» schon längst eine Berichtigung ihrer Meldung zugegangen war, schrieb «Das Aufgebot», Buochs: «Solche Meldungen bringen eine ganz unnötige und nicht zu verantwortende Beunruhigung unserer Wirtschaft und Bevölkerung. Die zuständigen Behörden im Bunde würden vielleicht gut tun, den Urhebern der Nachricht, die doch irgendwo und irgendwie festzustellen sind, nachzugehen und etwas auf die Finger zu klopfen. Es gibt Mittel in der Bearbeitung der Öffentlichkeit, die vielleicht in normalen Friedenszeiten noch angängig sind, die aber in schweren Kriegs- und Krisenzeiten im Interesse des Landes, der Ruhe und der ungestörten wirtschaftlichen Entwicklung auf keinen Fall angehen.»
Wie verhält es sich mit diesen schweren Verdächtigungen gegen das Konsortium Hinterrhein? Zunächst einige Angaben über die Situation des Wasserstandes der Staubecken und der Wasserführung der Gewässer gegen Mitte September 1943. Am 8. September 1943 betrug die aufgespeicherte Energiemenge aller Staubecken 885 Mio kWh gegenüber 960 Mio bei voller Füllung. Es fehlten also noch rund 73 Mio kWh. Seit Anfang September 1943 hatte sich dieser Stand kaum geändert. Die Staubecken im Voralpengebiet (Wäggital, Klöntalersee usw.) waren im Sinken, die Staubecken im Hochgebirge dank der Gletscherschmelze im Steigen begriffen.
Bedenklicher stand es um die Wasserführung der Flüsse. Der Rhein bei Rheinfelden führte am 10. September noch 665 m'Vsek, das langjährige Mittel des Septembers beträgt 1109 m3/sec. Die Limmat unterhalb Zürichs führte am 10. September 1943 noch knapp 48 m3/sec, gegenüber dem langjährigen Monatsmittel von 108 m3/sec, also kaum die Hälfte. Die Situation am 8./10. September musste in hydrologischer Hinsicht zu Bedenken Anlass geben. Wohl konnte man auf weitere Niederschläge hoffen, musste sich aber daran erinnern, dass auf den trockenen Sommer 1921 auch ein trockener Herbst 1921 gefolgt ist. Jedenfalls wurden von den kriegswirtschaftlichen Behörden verschiedene Massnahmen angeordnet (Einstellung der Energielieferung an Elektrokessel, Absenkung der natürlichen Seen zur Schonung der Speicherbecken usw.). Ein Lichtblick in dieser Situation waren die grösseren Disponibilitäten infolge der Inbetriebsetzung von Verbois, Morel usw., so dass, verbunden mit der Hoffnung auf weitere Niederschläge, die denn auch Mitte September eintraten, Grund zu starkem Pessimismus nicht vorhanden war. Am 10. September 1943, also noch inmitten der Niederwasserperiode, kamen etwa 10 bis 12 Journalisten auf einer Besichtigungsfahrt durch die Hinterrheinlandschaft in das Albulawerk der Stadt Zürich in Sils (Domleschg). Der dortige Zentralenchef gibt den Presseleuten auf Fragen auch Auskunft über den Stand der Energieproduktion angesichts der lang andauernden Trockenheit. Er kennt die Verhältnisse bei den Werken der Stadt Zürich (Wettingen, Wäggital). Er teilt mit, dass die Limmat etwa die Hälfte der zum vollen Betrieb des Kraftwerkes Wettingen nötigen Wassermenge führe, und dass der Wäggitalsee etwa 3 bis 4 m unter dem Stauziel stehe. Über andere Stauseen, die er nicht kennt, kann er keine Angaben machen, er erwähnt aber, dass beim Andauern der Trockenheit Einschränkungen im Energieverbrauch für den nächsten Winter zu erwarten seien, mit der Einschränkung der Lieferung für Elektrokessel habe man bereits begonnen.
Redaktor Dr. Kummer von der «Tat» hat an dieser Orientierung teilgenommen und in Nr. 215 der «Tat» vom 13. Sept. 1943 unter dem Titel: «Vor einem stromarmen Winter» darauf hingewiesen, dass man für den nächsten Winter wieder mit Einschränkungen im elektrischen Stromverbrauch, wahrscheinlich sogar mit ziemlich kräftigen, zu rechnen habe. Da die Flüsse nur sehr wenig Wasser führen, vermögen die Laufwerke gegenwärtig nur die Hälfte oder sogar noch weniger ihrer normalen Stromproduktion zu liefern. Anderseits seien viele unserer Stauseen zur Stunde noch nicht gefüllt, und es bestehe wenig Hoffnung, das normale Stauziel noch zu erreichen. Beim Grimselsee fehlen, wie man vernehme, beispielsweise noch rund vier Meter. Dr. Kummer fährt in seinem Bericht weiter: es seien bereits die ersten Einschränkungen im industriellen Energiekonsum angeordnet worden, so in der Stromabgabe an die Elektrokessel. Weitere Einschränkungen dürften, wenn in letzter Minute, d.h. vor dem bevorstehenden Beginn des Bergwinters, nicht ausgiebige Regenfälle einsetzen, kaum allzu lange auf sich warten lassen. Dem Redaktor der «Tat» ist hier offenbar eine Verwechslung des Wäggitalsees mit dem Grimselsee passiert. Der Zentralenchef des Albulawerkes hat über den Stand des Grimselsees, den er nicht kannte, nichts ausgesagt. Bei dem starken Lärm der Maschinen, der im Albulawerk herrscht, ist ein solches Missverständnis aber begreiflich. Das ist die erste Quelle des von -Wy- beanstandeten falschen Alarms.
Die Angelegenheit wurde dann etwas später von einem Berner Pressebüro aufgegriffen, das in den Tagen vom 16./17. September 1943 in der Presse' einen Artikel: «Mangel an elektrischer Kraft in Sicht» verbreitete, nachdem Herr Nydegger vor dessen Abfassung eine Besprechung mit einer massgebenden Persönlichkeit des Kriegs-Industrie- und Arbeitsamtes in Bern gehabt habe. In diesem Artikel machte Herr Nydegger auf die Wirkung der Trockenheit auf die Stromversorgung im kommenden Winter aufmerksam und wies darauf hin, dass die Stauseen mit Zuflüssen aus den Gletschergebieten nicht übel versorgt zu sein scheinen, dass aber jene Staubecken vielfach halb leer seien, die in der Hauptsache von Niederschlägen abhängen. In verdankenswert vorausschauender Weise befassen sich nach Nydegger die kriegswirtschaftlichen Behörden mit der Energieversorgung im kommenden Winter. Die Planung gehe auf gewisse Verbrauchseinschränkungen, die sofort in Kraft gesetzt werden können, wenn es dringend werde. Wie man wisse, hätte bei derartigen Massnahmen die produktive Wirtschaft den absoluten Vorrang von dem privaten Konsum. Dieser dürfte daher im Bedarfsfalle zuerst Opfer bringen.
Hier haben wir die zweite Quelle des beanstandeten falschen Alarms. Aus der Hälfte der normalen Stromproduktion der Laufwerke, wie der Redaktor der «Tat» richtig geschrieben hatte, macht Nydegger halbleere Staubecken.
Es sind also journalistische Ungenauigkeiten und Missverständnisse, die den Verfasser des Artikels «Falscher Alarm» zu seinen Verdächtigungen und Angriffen gegen das Konsortium Hinterrhein Anlass gegeben haben. Dieses Konsortium war aber an den beanstandeten Pressemitteilungen in keiner Weise, weder direkt noch indirekt, beteiligt. Der «Falsche Alarm» fällt auf seinen Urheber zurück.

In dieser «Komödie der Irrungen» scheint aber noch ein Schlussakt bevorzustehen, denn heute, gegen Ende November, müssen wir leider befürchten, dass sich der «falsche Alarm» als ein «richtiggehender Alarm» erweisen wird. Angesichts der anormalen Trockenheit und dem Tiefstand der Flüsse sind von den zuständigen Behörden einschränkende Massnahmen im Energieverbrauch angekündigt worden und bei Erscheinen dieser Nummer vielleicht bereits in Kraft getreten.

Woraus man die Lehre beherzigen sollte: mit Voraussagen und Behauptungen über die künftige Lage unserer Energieversorgung sehr vorsichtig und zurückhaltend zu sein, solange die nötigen Energiereserven für den Winter nicht zur Verfügung stehen.

A. H.

 
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